Close-Up – Näher dran

Ein Überblick über Einstellungsgrössen im Film, ihre Wirkungen und Bedeutungen
ⓒ Studio / Produzent

Stellen Sie sich folgende Szene vor: Rose und Jake lernen sich bei einer Kreuzfahrt kennen. Sie verbringen den Abend miteinander und entwickeln langsam zarte Gefühhle füreinander – schliesslich ist so eine Kreuzfahrt ja auch romantisch. Bei einem Spaziergang über Deck gelangen die beiden frisch Verliebten bis zum Bug des Schiffes und der rebellische Jake überredet die zarte Rose über die Absperrung zu klettern, um bis zum vordersten Punkt des Schiffes zu gelangen. Der Wind bläst ihnen durch die Haare und während Jake seine grosse Liebe umarmt, streckt sie ihre Arme aus und ruft, befreit von allen gesellschaftlichen Zwängen, der untergehenden Sonne zu, dass sie fliegen kann. Haben Sie die Szene vor Augen? Romantisch, nicht wahr?

Und jetzt, stellen Sie sich diese berühmte Filmszene einmal ganz anders vor. Was wäre, wenn die beiden Darsteller aus einem Hubschrauber in 50 Meter Höhe gefilmt worden wären? Die zwei Verliebten würden verschwindend klein auf einem riesigen, stählernen Kreuzfahrtschiff wirken und die ganze Romantik würde verloren gehen. Dass wir als Kinozuschauer mit den Helden auf der Leinwand mit fiebern und mitleiden liegt meist an dem gezielten Einsatz verschiedener Einstellungsgrössen. Aber was sind Einstellungsgrössen eigentlich?

Von Hänsel und Gretel bis zum Kontinuitätsprinzip Hollywoods

Als das noch sehr junge Kino begann, mehr als nur die platte Realität abzubilden, entdeckten die damaligen Kameramänner bald einmal, welche Bildabfolgen beim Publikum ankamen und welche eher weniger Sinn ergaben, das Publikum in seiner Rezeption verstörte. Selbst in den einfachsten Märchen wird der Zuhörer mehr oder weniger zeitlich und räumlich orientiert, beginnen doch die meisten uns bekannten Geschichten mit den Worten „Es war einmal in einem fernen Land…“. Diese Orientierung braucht es auch beim Film und da man bis circa 1935 ohne eine Tonspur auskommen musste, musste diese Orientierung anhand von Bildern geschehen. Die Filmkünstler der ersten Zeit mussten sich also fragen, wie man bei einer Verfilmung von – sagen wir einmal, „Hänsel und
Gretel“ – die Konzentration auf die Brotkrumen leiten konnte, sind diese Brotkrumen doch essentiell für das Happyend der Geschichte. Das Publikum im Kino hätte die Brotkrumen die auf den Waldweg gestreut werden niemals erkennen können, hätten sie nur Hänsel und Gretel gesehen, die in einen dunklen Wald hineingehen. Man hätte also die einzelnen Brotkrumen auf dem Waldweg zeigen müssen. Nun hätten aber diese einzelnen Bilder von Brotkrumen keinen Sinn ergeben, wenn das Publikum vorher nicht darüber orientiert worden wäre, dass Hänsel und Gretel in ihren Händen Brotlaibe halten, von denen sie Stücke abreissen, um diese dann auf ihrem Weg durch den Wald als Wegweiser liegen zu lassen. Die Einstellungsgrösse musste „erfunden“ werden.

Einstellungsgrössen sind grundsätzlich nichts anderes als ein bestimmter Bildausschnitt der aufgrund der Distanz der Kamera zum gefilmten Objekt entstehen kann: Brotkrumen, die auf einem Waldweg liegen, Brotlaibe in Händen von Kindern, Kinder, die in einen dunklen Wald gehen und das alles übergross auf eine Leinwand projiziert. Über die Jahre hinweg wurden die verschiedenen Einstellungen immer raffinierter und die Wirkungen, die sie auf das Kinopublikum hatten, immer beabsichtigter; bis dann Hollywood mit seinem Kontinuitätsprinzip auf die Leinwand kam. Das hollywood’sche Kontinuitätsprinzip, das Kinopublikum vom Grossen (z.B. Erde aus dem Weltall) hin zum Kleinen (z.B. Strassenzug in New York) zu leiten, wurde ab den 1930ern entwickelt und erwies sich als erfolgreichste Art und Weise, den Zuschauer zu orientieren

Intime, persönliche, soziale und öffentliche Distanzen

Grundstein für eine räumliche und zeitliche Orientierung mittels Einstellungsgrössen und ein Kontinuitätsprinzip, ist das Verständnis um die – , nennen wir es einmal – „Psychologie der Kamera“: die Kamera nämlich imitiert den menschlichen Blick. Anders ausgedrückt bedeutet das, dass der Kinogänger das Bild auf der Leinwand als sein eigenes Sehverhalten empfindet. Kaum einer sitzt im gemütlichen Kinosessel und denkt sich, dass er die Bilder auf der Leinwand durch die „Maske“ Kamera erblickt. Aus diesem Grund können persönliche Anteilnahme und Identifizierungen mit den Leinwandcharakteren vonstatten gehen; ein unbedingtes Muss, wenn der Spielfilm etwas taugen soll. Daher ist es nicht verwunderlich, wenn Louis Giannetti, amerikanischer Filmwissenschaftler und Professor an der Universität in Cleveland, auf die Erkenntnisse des Soziologen Edward T. Hall und dessen Erläuterungen zur Proxemik zurückgreift, um die verschiedenen Einstellungsgrössen zu kategorisieren. Hall unterscheidet zwischen vier verschiedenen Distanzen, die wir beim zwischenmenschlichen Kontakt einnehmen. Zum einen wäre da:

  • Die intime Distanz, von Hautkontakt bis etwa einen Arm weit entfernt. Dieser sehr intime Raum ist nur wirklich wichtigen Menschen vorbehalten, Lebenspartnern und Ehegatten zum Beispiel.
  • Die persönliche Distanz liegt etwa im Bereich von 0.5m bis 1.5m. Dieser Raum ist Familienmitgliedern und Freunden vorbehalten.
  • Die soziale Distanz zwischen 1.5m und circa 4m ist in etwa der Abstand, den wir instinktiv einnehmen, wenn wir jemand Fremden oder beruflich höher Gestellten begegnen und wenn wir uns in Gruppen von mehr als drei Leuten unterhalten.
  • Die öffentliche Distanz, alles ab etwa 4m Entfernung, ist die unpersönlichste Distanz, die wir einnehmen können.

Kleinste und grösste Einstellungen

Auf diese vier Distanzen bezieht sich Giannetti also, wenn er in seinem Buch „Understanding Movies“ Einstellungsgrössen definiert. Nach Giannetti können die kleinsten Einstellungsgrössen zum Bereich der intimen Distanz gezählt werden. Kleinste Einstellungsgrösse mag verwirrend klingen, sind doch Detail, extreme Grossaufnahme und Grossaufnahme (Close Up) enorm grosse Bildausschnitte auf der Leinwand; es macht aber Sinn, wenn man sich die Distanz zwischen der Kamera und dem gefilmten Objekt vorstellt: sie ist äusserst kurz und würde im echten Leben, im Austausch zwischen zwei echten Menschen, der intimen Distanz entsprechen. Logische Konsequenz daraus ist, dass diese Einstellungen eher für Liebesszenen, Sequenzen voller Emotionalität und Hauptfiguren genutzt werden. Es macht keinen Sinn, eine unwichtige Nebenfigur so übermächtig und gross auf der Leinwand darzustellen, wenn sie nur einmal im Film auftaucht und für den weiteren Verlauf der Geschichte von keiner Bedeutung ist.

Die persönliche Distanz entspricht etwa den beiden Einstellungen Nahaufnahme und Amerikanische. Diese beiden Einstellungen werden oft in Dialogsequenzen benutzt, vor allem dann, wenn das Publikum schon darüber orientiert worden ist, wer die Hauptfiguren sind. In der Realität würde die Distanz von 0.5m bis 1.5m auch etwa eingehalten, wenn man mit einem guten Freund bei einem Glas Rotwein eine Diskussion führte. Die Nahaufnahme wird eher bei Dialogen im Sitzen benutzt, die Amerikanische hingegen bei Dialogsequenzen, die im Stehen geführt werden.

Die Halbnahe und die Halbtotale hingegen werden genutzt, um die soziale Distanz auf die Leinwand zu bringen. Figuren, die der Zuschauer so zu Gesicht bekommt, sind meist noch Unbekannte. Die Halbnahe und die Halbtotale zeigen den ganzen menschlichen Körper, man kann als Kinogänger sozusagen sein Gegenüber von oben bis unten mustern und das auch noch aus einer sicheren Distanz. Wenn die Halbtotale der Figur auf der Leinwand Platz lässt, so ist die Halbnahe einschränkender. Der menschliche Körper wird regelrecht vom Bildausschnitt eingesperrt. So erzielt der Regisseur mit dem Einsatz von übermässigen Halbnahen auch eine psychologische Bedrückung. Figuren,  die irgendwie eingesperrt wirken sollen – physisch (z.B. im Gefängnis) oder psychisch (z.B. durch Hemmungen) – werden oft in Halbnahen gezeigt.

Zum Schluss gibt es noch die beiden grössten Einstellungen: die Totale und das Panorama. In beiden Einstellungen ist die menschliche Figur zu einem unbedeutenden Flecken degradiert. Die Mimik des Schauspielers ist nicht zu erkennen und die Gestik nur andeutungsweise zu erahnen. Das ist aber auch nicht wichtig, denn in den grössten Einstellungen spielt nicht der Mensch die tragende Rolle, sondern die Landschaft. So ist es nicht verwunderlich, dass gerade Panorama-Einstellungen gerne im Westerngenre genutzt werden. Die Weite der amerikanischen Prärie ist sehr viel wichtiger, als das einzelne Schicksal von Menschen. Die Totale, die den Horizont nur erahnen lässt, wird meist genutzt, um einen Schauplatz vorzustellen. Ein Blick auf die Skyline von New York, das Bild des Eiffelturms, und schon weiss der Kinogänger, wo die Geschichte stattfindet.

Für einen Regisseur ist der gezielte Einsatz von Einstellungen eines der wichtigsten Instrumente, die er nutzen kann, um bei seinem Publikum Sympathien oder Abscheu zu erzeugen. Wenn wir im Kinosessel mit den Figuren auf der Leinwand mitleiden, mitlachen, uns zur gleichen Zeit und vor demselben fürchten wie die Figur auf der Leinwand, wenn wir also für ein oder zwei Stunden den Alltag vor den Kinotüren vergessen können und in eine andere, uns fremde Welt eintauchen können, dann hat das unter anderem auch mit dem klugen Einsatz von Einstellungsgrössen zu tun.

Im Folgenden eine Auflistung der einzelnen Einstellungsgrössen:
Detail Die Einstellungsgrösse Detail ist von einem Teil des menschlichen Körpers dominiert. Augen, Mund oder Ohren.
Extreme Grossaufnahme Die Extreme Grossaufnahme zeigt nur das Gesicht des Schauspielers (von Haaransatz bis Kinn). Wie die (normale) Grossaufnahme vermittelt auch die Extreme Grossaufnahme einen intimen Bezug zu den Charakteren.
Grossaufnahme Die Grossaufnahme bildet sowohl das Gesicht als auch einen Teil des Oberkörpers ab. Die Grossaufnahme kann uns eine intimere Beziehung zu den Personen auf der Leinwand vermitteln. In der goldenen Ära des Hollywoodkinos wurden Grossaufnahmen oft genutzt, um
die makellose Schönheit der weiblichen Stars hervorzuheben, und so mehr Publikum ins Kino zu locken.
Nahaufnahme Die Nahaufnahme zeigt den ganzen Oberkörper, also etwa die Distanz – eine Armlänge und mehr – die man zu einem Gesprächspartner hätte. Wie in der Halbtotalen werden auch in der Nahaufnahme Gesten und Körpersprache des Schauspielers eingefangen, aber sie ist noch nah genug am Gesicht, um auch die feinen Veränderungen der Mimik zu erfassen.
Amerikanische Die Amerikanische zeigt den menschlichen Körper bis etwa zu den Knien. Das Publikum ist nicht mehr ganz so nahe am Geschehen wie bei der Nahaufnahme, dennoch kann eine emotionale Bindung zu den Charakteren hergestellt werden.
Halbnah Die Halbnah Einstellung zeigt die Figur von Kopf bis Fuss. Die Figur scheint förmlich von den Bildrändern eingesperrt zu werden, was oft genutzt wird um psychische als auch physische Gefangenschaft auszudrücken.
Halbtotal Genau wie bei der halbnahen Einstellungsgrösse zeigt auch die Halbtotale den Charakter in seiner ganzen Grösse. Im Gegensatz zur Halbnahen wirkt die Figur aber freier.
Totale Die Totale gewährt einen Überblick. Figuren in einer Totalen sind nur von ihrem Körperbau oder ihrer Kleidung her wieder zu erkennen. Reduziert auf die Funktion einer Einführungseinstellung, wird sie nur dann eingesetzt, wenn eine Figur und ein Schauplatz miteinander verbunden werden sollen. Die Totale ist die beliebte Einstellungsgrösse für den so genannten Establishing-Shot (Einführungseinstellung).
Panorama Charaktere sind auf einen kaum erkennbaren Punkt reduziert, Gestik und Mimik sind inexistent und der Zuschauer kann sich leicht in der Weite der Natur verlieren. In einer Panoramaeinstellung spielt die Landschaft die Hauptrolle.

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